Um es vorwegzunehmen: Manchmal ärgere ich mich mächtig über meine Velogenossinnen und Genossen, ihr rücksichtloses oder fahrlässige Verhalten machen mich ratlos. Und ja, manchmal ärgere ich mich über mich selbst, wenn ich mich von einem Termin gehetzt, zu einem unvorsichtigen Manöver hinreissen lasse. So sind wir uns wahrscheinlich einig, die Realität auf den Strassen ist oftmals keine entspannte und der Veloverkehr trägt seinen Beitrag dazu bei. So weit so schlecht.
Vor kurzer Zeit musste nun unsere Präsidentin einiges an unfreundlichen Netz- Kommentaren über sich ergehen lassen. Dies, weil sie sich dem allgemeinen Tenor entgegenstellte und nicht auf das angebliche Rowdytum der Velofahrenden einstimmen mochte und den stipulierten Wert von Polizeikontrollen relativierte.
Woher kommt die medial aufgeheizte und entsprechend begleitete Personifizierung der vorhandenen Herausforderungen des Veloverkehrs? Denn die oftmals pauschalisierende Dämonisierung und Diffamierung durch das Zielen auf den velofahrenden Mann, respektive die Frau, durch Begriffe wie Velorowdys scheint sehr populär. Ich versuche ein paar mögliche Antworten herauszuarbeiten.
Das Motiv des Sündenbocks ist uralt und funktioniert in fast allen Bereichen von komplexen persönlichen oder gesellschaftlichen Problemen. Es ist viel einfacher, jemanden als Schuldigen ausserhalb von einem selbst abzuwerten, als das ganze Ausmass einer Problematik mit seinen Abhängigkeiten und Zusammenhängen zu ermessen. Und ja, einige Velofahrer:innen drängen sich mit ihrem Fahrverhalten richtiggehend in diese Rolle.
Bezeichnenderweise lese oder höre ich vom Gegenteil, der positiven Personifizierung nie etwas. Oder haben Sie schon vom Veloressourcenschoner, der Veloparkplatzsparerin oder vom Velogesundheitsförderer gehört? Inhaltlich jedenfalls wäre die positive Verallgemeinerung korrekter als die negative Version, wo man von wenigen auf die ganze Gruppe schliesst.
Ist der Frust der Autofahrer:innen aufs Velovolk nachvollziehbar? Teilweise schon, denn mittlerweile hat es jeder und jedem wohl gedämmert, dass man als Autofahrer:in auf der falschen Seite der Geschichte steht. Alle seriösen wissenschaftlichen Arbeiten zeigen: Wir haben ein gröberes Problem. Veränderung ist gefordert – doch leider reisst uns das aus vielen liebgewonnenen Gewohnheiten (Velofahrer:innen eingeschlossen). Den Frust auf andere zu lenken ist menschlich, aber leider nicht zielführend. Die Privilegien des mobilisierten Individualverkehrs beginnen zu bröckeln und somit hat der Verteidigungskampf dieser Privilegien begonnen.
Und ja, wenn man in der Autokolonne festsitzt, ist es schon sehr frustrierend, wenn es auf dem Velostreifen zügig vorwärts geht. Gegen diesen Frust hilft jedoch ein kleines Gedankenspiel:
Was wäre, wenn die 8000 Velofahrenden die täglich den Luzernerhof passieren, plötzlich ein Auto nützen würden?
Eine ehrliche Beantwortung dieser Frage sollte den Schmerz lindern helfen.
Eine grosse Problem- und Frustzone ist der Mischverkehr zwischen Zufussgehenden und Velofahrenden. Doch weshalb werden diese beiden sehr unterschiedlichen Mobilitätsformen denn überhaupt gemischt, wenn es soviel Frust auslöst? Genau, weil der motorisierte Individualverkehr sehr viel Mobilitätsfläche ganz selbstverständlich für sich beansprucht, sollen die Kleinen den Rest gefälligst aufteilen. Und die Kleinen fallen darauf hinein und veranstalten den «Krieg der Zwerge» nach dem Motto: Wenn sich der Zweitschwächste mit dem Schwächsten streitet, freut sich der Starke. Denn gefühlt wird der Velofahrer als der rivalisierende Platzkonkurrent wahrgenommen, doch der MIV beansprucht ungleich mehr Platz.
Ebenso gefühlt erkennt der Fussgänger den Velofahrer als Bedrohung und Gefahr. Während objektiv (z. Bsp. Unfallstatistik,) der Fall klar ist: Der MIV ist im Verkehrsalltag ungleich gefährlicher und verbreitet gesundheitsgefährdende Emissionen (Lärm, CO2, Feinstaub etc.) mit Langzeitfolgen.
Auch wenn es mit dem Ausbau der Infrastruktur vorwärts gehen sollte, Reststücke von Mischverkehr werden übrigbleiben, denn wir leben zum Glück in einer gebauten Stadt. Das Zusammentreffen von Velo und Fuss muss sich an diesen Orten verbessern. Eine mögliche Antwort der Problematik wird durch die Wahrnehmungspsychologie erklärt. Auf die Frage, welcher Abstand beim Überholen von Fussgänger:innen „anständig“ sei, antworten Fussgänger:innen mit durchschnittlich 1.8 Metern, während Velofahrer:innen 1 Meter als anständig wahrnehmen. Der Unterschied könnte man als Frustpotenzial bezeichnen. Pro Velo hat deshalb für ein einvernehmliches Miteinander mit Zufussgehenden einen «Freundschaftskodex» für Velofahrende formuliert
- Ich begegne Fussgänger:innen mit besonderem Respekt.
- Ich überlasse das Trottoir den Fussgänger:innen.
- Zebrastreifen = Fussgängervortritt. Punkt.
- Wo es eng wird, überhole ich langsam und mit genug Abstand.
- Gegenüber betagten Menschen und Kindern bin ich besonders rücksichtsvoll.
- Mein Velo steht nur da, wo für FussgängerInnen genug Platz bleibt.
- Auf dem E-Velo verhalte ich mich erst recht fussgängerfreundlich.
Doch kommen wir zum mit der Medienberichterstattung bedienten Vorurteil zurück, dass sich Velofahrer an keine Regeln würden. Darin scheinen sich die Fussgänger:innen und die MIV Nutzenden irgendwie einig zu sein. Hat die Mehrheit doch recht?
Rechnen wir einmal nach: Wenn man die von der Polizei gemeldeten (weshalb kommuniziert das die Polizei überhaupt so prominent via Facebook? Kann sie mit viralem Lob rechnen?) 130 Bussen in Relation zu den genannten Zahlen der Zählstelle Luzernerhof mit 8000 täglichen Velofahrerinnen setzen, sind 98.4 % korrekt gefahren. Alles halb so wild. Zugegeben, diese Zahlen rechnen die bestehenden Herausforderungen wohl klein.
Doch bringen wir die Vorgaben der Politik ins Spiel. Es muss sich sehr viel verändern, damit wir das angestrebte Ziel von einer Verdreifachung des Veloverkehrs umsetzen können.
Viel wäre bereits erreicht, wenn man sich vor brandgefährlichen Stellen nicht auf Trottoirs retten müsste, Mischverkehr nur an wenig befahrenen und begangenen Wegen nötig wäre und auch Velofahrende davon ausgehen dürfen, dass Baustellen Signalisationen auch für sie eine sichere Lösung vorsehen und anzeigen.
Und was ist folglich von Velofahrer:innen zu halten, die argumentieren, sie müssten sich solange nicht an Regeln halten, als bis das Velo nicht mehr systematisch «vergessen» würde? Billige Ausrede, sagen wir dazu, wir haben kein Interesse an einem Outlaw-Verhalten. Wir wollen, dass das Velo in der Mitte der Gesellschaft eine wichtige Mobilitätsfunktion wahrnimmt. Deshalb setzt sich Pro Velo für eine sinnvolle und geeignete Regulierung und einen entsprechenden Vollzug ein. Je grösser der Mobilitätsanteil der Velofahrenden wird, desto klarer und sinnvoller muss geregelt und vollzogen werden. Diesen Preis des Erfolgs zahlen wir gerne.
Doch ebenso klar ist: Die Probleme sind nicht mit Regeln, Respekt und Rücksichtnahme alleine zu lösen, es braucht einen massiven Ausbau der Velo-Infrastruktur – und zwar jetzt.
Bruno Ruegge, Geschäftsleiter Pro Velo Luzern
Geschäftsstelle